– 03|11|25 –

Baum mit Gesicht

Es gibt Tage, da spricht der Wald anders. Leiser. Gedämpfter.
Wie eine Bühne nach dem letzten Vorhang, wenn nur noch das Holz atmet und die Schatten sich ordnen. Ich betrete ihn nicht als Besucherin, sondern als Teil davon – mit offenen Augen, mit einer Kamera, die mehr zuhört, als aufnimmt.

Der Herbst hat längst begonnen, sich zurückzuziehen.
Die Farben explodieren noch ein letztes Mal, bevor sie sich selbst verneigen.
Ich trete in dieses Schauspiel ohne Drehbuch – nur Licht, Wind und meine eigenen Schritte im nassen Laub.

 

Die Stille nach dem Gesang

Im Frühling war dieser Wald laut. Ein Orchester aus Rufen, Flattern, Zwitschern.
Jetzt sind nur noch vereinzelte Stimmen zu hören – ein Rotkehlchen, das kurz den Ton sucht, eine Amsel, die irgendwo raschelt.

Die eigentliche Musik liegt jetzt in der Pause. Im feinen Tropfen, der sich vom Ast löst.
Im dumpfen Rascheln, wenn ein Reh durch das Unterholz zieht. In der eigenen Atmung, wenn man vergisst, dass man sie hören kann.

Manchmal gehe ich nicht allein. Dana läuft frei voraus – leichtfüßig, selbstsicher, fast eins mit dem Weg. Dukan bleibt an meiner Seite, aufmerksam und geduldig. Er sitzt, wenn ich stehen bleibe, wartet, wenn ich mich hinunterbeuge, schaut mit diesem stillen Vertrauen, das mehr sagt als jedes Wort.
Ich habe gelernt, dass Geduld im Wald eine andere Bedeutung hat. Sie ist kein Warten – sie ist ein Einverständnis. Ein Einverständnis mit dem Tempo der Dinge, mit dem Rascheln der Blätter, dem Atem der Bäume, und manchmal auch mit dem eigenen, langsameren Schritt. Und am Ende, wenn Dukan sein Leckerli bekommt, ist das kein „Danke fürs Warten“, sondern ein kleiner Gruß zwischen Gefährten, die wissen, dass jedes Innehalten Teil des Weges ist.

Ich bleibe stehen und merke, wie schnell man sich in Bewegung verliert.
Fotografie im Wald bedeutet für mich: Verlangsamen bis zum Stillstand.
Erst dann sieht man, dass alles lebt – selbst das, was stirbt.

Pilze – das zweite Leben

Unter meinen Schuhen zerbricht ein Stück Rinde, und darunter beginnt eine Welt, die sich selbst erschafft. Pilze. Zart, wild, grotesk schön. Sie wachsen aus Totholz, aus Erde, aus Schatten. Manche leuchten fast, als hätten sie eigenes Licht.

Ich knie mich hin, Kamera in der Hand, Makroobjektiv montiert.
ISO 800, Blende 3.5, Zeit 1/100.
Kein Blitz. Nur das diffuse Restlicht, das sich durch den Nebel kämpft.
Fotografieren im Herbst ist wie Atmen unter Wasser – man muss lernen, mit weniger auszukommen.

Ein Pilz ist kein Motiv, das man sucht. Er ist etwas, das sich zeigt, wenn man still genug wird. Und plötzlich sehe ich Strukturen, feine Linien wie gezeichnete Landkarten auf dem Hut.
Ein Tropfen hängt am Rand, und für diesen Moment gibt es nichts anderes als ihn.
Ein Klick. Und das Gefühl, dass das Bild längst da war – ich musste es nur abholen.

Baumstamm mit Pilzen

Das Licht, das bleibt

Licht im Herbst ist unzuverlässig. Manchmal bricht es golden durch die Zweige, dann wieder zieht eine Wolke vorbei und löscht alles aus.
Ich liebe dieses Wechselspiel – es zwingt mich, nicht nur technisch zu denken, sondern zu fühlen.

Ich stelle die Kamera auf manuell.
Belichtung leicht nach oben korrigiert, Weißabgleich Richtung warm. Nicht, weil ich Perfektion suche, sondern weil ich die Stimmung bewahren will, so wie sie sich anfühlt, nicht wie sie „richtig“ wäre.

Ein alter Baum steht vor mir, halb von Moos bedeckt, der Stamm wie ein Gesicht – mit Runzeln, Falten, Schatten. Ich sehe Augen, wo keine sind, und denke: vielleicht ist das die wahre Magie der Fotografie – nicht das Sichtbare festzuhalten, sondern das, was man hineinliest.

Waldweg mit schönem Licht

Komposition aus Chaos

Der Herbst ist kein aufgeräumtes Bild. Er ist Schichtung: Laub, Äste, Zweige, Spuren, Schatten. Ich gehe nah heran, suche Linien. Ein Pilz am Rand, ein Blatt, das diagonal fällt, ein Lichtpunkt, der den Blick lenkt.

Ich arbeite mit dem, was da ist. Kein künstlicher Aufbau, kein Eingriff. Fotografieren im Wald bedeutet, Kontrolle abzugeben. Man komponiert mit Zufall – und manchmal mit Wind.

Einmal fällt ein Blatt genau in den Moment meiner Belichtung. Es schwebt durchs Bild, leicht verwischt, ein goldener Bogen zwischen Ruhe und Bewegung. Ich lächle. Solche Fehler lösche ich nicht. Sie sind das Leben im Bild.

Farben, die sich verabschieden

Die Farbtöne des Herbstes sind unverschämt ehrlich. Rot, Gelb, Orange – und doch immer ein Hauch von Grau dazwischen. Ich stelle den Weißabgleich neutral, nehme in RAW auf, damit ich später in Camera Raw noch nachfühlen kann, wie es war, nicht nur wie es aussieht.

Im Histogramm kein Ideal, aber im Herzen ein Treffer. Ich mag es, wenn die Schatten zu dicht und die Lichter fast zu hell sind – weil genau da das Gefühl liegt.

In der Nachbearbeitung hebe ich nur leicht die Struktur an, ein bisschen Dunst entfernen, ein Hauch Klarheit. Ich lasse das Korn stehen. Der Herbst darf rauschen. Er soll atmen, nicht glänzen.

Begegnungen am Wegesrand

Ich treffe niemanden. Kein Mensch, kein Gespräch. Nur ein Eichhörnchen, das kurz innehält, mich mustert, dann weiterzieht. Ich beneide es ein wenig – es weiß, was zu tun ist, wenn die Zeit kommt.

Meine Fotos entstehen leise. Kein Serienmodus, kein Dauerfeuer. Ein Bild, dann prüfen, warten, neu denken. Es ist fast meditativ. Vielleicht ist das der Grund, warum ich herkomme – nicht um Bilder zu machen, sondern um mich selbst zu entlasten.

Der Geruch des Vergehens

Es gibt diesen unverwechselbaren Duft, wenn Laub beginnt, sich zu zersetzen. Ein warmer, dunkler, erdiger Geruch. Ich wünsche mir manchmal, ich könnte ihn fotografieren. Aber vielleicht geht das – indirekt. Über Licht, Farbe, Struktur. Über Bilder, die riechen, ohne Geruch zu haben.

Ein Stamm liegt quer über dem Weg, vom Moos überzogen, am Rand ein Pilz, rund wie ein Ohr. Ich gehe in die Hocke. Der Fokus sitzt auf der Kante, dahinter verschwimmt die Welt. Das Bokeh ist weich, golden, und plötzlich ist alles darin enthalten: Zeit, Wandel, Geruch, Erinnerung.

Zwischen Technik und Gefühl

Ich denke manchmal, Fotografie ist wie Atmen mit Zahlen. Man braucht sie – ISO, Blende, Belichtung – aber sie sind nicht der Zweck. Sie sind das Gerüst, nicht das Haus. Das eigentliche Bild entsteht im Moment, in dem Technik und Empfindung sich gegenseitig aufheben.

Wenn ich durch den Sucher schaue, bin ich gleichzeitig Auge und Herz. Ich sehe das Motiv – und spüre, was es in mir auslöst. Wenn beides übereinstimmt, weiß ich: Das ist es. Dann drücke ich ab.

Gesichter des Herbstes

Manchmal, wenn ich länger im Wald bleibe, erkenne ich Gesichter in den Bäumen. Nicht weil sie da sind, sondern weil ich bereit bin, sie zu sehen. Ein Ast wie ein Mund, ein Astloch wie ein Auge, ein Schatten wie eine Falte. Vielleicht zeigt sich der Herbst so, weil er uns an unser eigenes Werden erinnert.

Die Kamera ist Zeugin. Nicht Richterin, nicht Retterin – Zeugin. Ich halte fest, was vergeht, und finde darin ein Stück Ruhe.

Heimweg

Wenn ich den Wald verlasse, klebt feuchtes Laub an meinen Schuhen. Die Kamera ist schwer vom Nebel, die Speicherkarte voll. Ich werfe keinen Blick zurück – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil ich weiß, dass er mich ohnehin begleitet.

Später, am Mac, wenn die RAWs sich öffnen, fühlt es sich an, als würde der Wald wieder einatmen. Die Bilder sind still, aber lebendig. Keines ist perfekt. Manche leicht verwackelt, andere zu dunkel. Und doch tragen sie alle dieselbe Spur: Ehrlichkeit. Kein Filter, kein Spektakel – nur der Versuch, den Moment so zu lassen, wie er war.

Eichhörnchen im Wald

Nachwort

Der Herbst zeigt Gesichter, aber er verlangt auch, dass man hinschaut. Zwischen den Linien der Blätter, in den Schatten der Bäume, im feinen Nebel, der alles einhüllt.

Vielleicht ist das die eigentliche Kunst: nicht das perfekte Foto, sondern das ehrliche. Eins, das die Stille nicht stört. Eins, das den Atem anhält. Eins, das mich erinnert, warum ich überhaupt fotografiere.

Nicht um zu besitzen. Sondern um zu sehen.